Das Rätsel des Opfers
Spiegel online
Von Kerstin Schneider
Berlin 1998/99: Die Ehepaare Nora und Fred und Christa und Robert
gehören zu Generation der Mittdreißiger, die alles
erreicht haben und keine materiellen Sorgen kennen. Langsam schleicht
sich Langeweile ein, verlangt ihnen nach prickelnder Erotik und
deftigem Sex. Alle Spielarten der Liebe, ob Partnertausch oder
One-Night-Stands, scheinen möglich, ohne Wunden zu hinterlassen.
Das Kinderspiel vom "Bäumchen wechsel' Dich" nimmt
seinen Lauf. Der Soap-Autor Fred geht mit der Pressefrau Christa ins
Bett. Nora, die an ihrer Doktorarbeit über Alfred Döblins
Frauengestalten arbeitet, schläft mit dem Schriftsteller Robert.
"Liebespaare" ist ein bitterer Gesellschaftsroman, der von
der Unmöglichkeit erzählt, Leben und Liebe als Spiel
auffassen zu können. Ob Hedonismus oder Multikulti, Cybersex und
Toskana-Feeling: Nichts kann die Tristesse aufhalten. Die Figuren
tänzeln nervös, sind unfähig, sich zu entscheiden.
Soll man sich trennen? Sollte man Kinder haben? "Wie soll man
wissen, was man tun soll, wenn man alles tun kann," lässt
der Autor Greta, eine Freundin von Fred und Nora, sagen.
Es ist auch
ein Roman über die Furcht vor dem Älterwerden, das
Erschrecken über die ersten Spuren des körperlichen
Verfalls, die Falten, die grauen Haare, die zunehmenden Pfunde. Ein
grandioses Beispiel der Erzählkunst des 40-jährigen Autors
ist ein peinlicher Abend auf der Swinger-Party. "Freds
Bedürfnis, sich in der Unterhose zu präsentieren, ist
gering", heißt es da bei Woelk lakonisch ...
Woelks Buch ist kein typischer
Berlin-Roman. Er zeigt eher, dass man sich in der Hauptstadt genauso
langweilen kann wie in der Provinz. Tragisch ist, dass das Leben eben
unspektakulärer ist, als wir es gerne hätten. Erfüllungsort
der Sehnsucht ist Italien, wo die beiden Paare Ferienhäuser
besitzen. Doch um aus dem Einerlei der Melancholie herausgerissen zu
werden, reichen die Hügel der Toskana nicht mehr aus. Der
postmoderne Großstädter braucht starke Erschütterungen
durch die Natur. Regen löst Sehnsüchte aus, der trockene,
heiße Mai bringt die Liebe. Ein Erdbeben, das die beiden
Liebespaare in Italien erleben, kündigt das Ende des
Partnertauschs an. Doch erst der Tod eines Freundes aus ihrer Clique
reißt alle aus ihrer Lethargie.
Nora und Fred kommen einander
wieder näher, vielleicht weil sie kapiert haben, dass auch ihre
erotischen Eskapaden endlich sind. Am Schluss des Romans rettet Woelk
die Liebe, weil er ihr Attribute gibt, die jenseits von Sex eine
Rolle spielen: Offenheit, Wärme und Nähe. Das Ende ohne
jede Ironie überrascht. Sieht so der Gegenentwurf zum längst
lauthals propagierten Cybersex-Zeitalter aus? Vielleicht.